Als das kleine Moos vom ersten Sonnenstrahl des Frühlings geweckt wurde, begann es, den frischen Tau aufzunehmen. Saftig und grün saß es zwischen Zweigen und Laub verborgen. Der letzte Schnee schmolz und das kleine Moos beschloss zu wachsen, um weiteren Waldboden in Besitz zu nehmen und die Welt zu entdecken. Die Tage vergingen und das kleine Moos fühlte sich sehr wohl. Kleine Baumkinder nutzten die Wärme. Sie keimten, schossen schnell in die Höhe und reckten ihre hellgrünen Blätter den spärlich nach unten dringenden Sonnenstrahlen entgegen. Schatten fiel auf das kleine Moos und es blickte argwöhnisch nach oben. Schneeglöckchen, Veilchen, Märzenbecher und Buschwindröschen blühten bald in den prächtigsten Farben. Das kleine Moos ärgerte sich ein wenig, denn es selbst konnte nur sehr langsam wachsen und hatte nicht die Möglichkeit größere Höhen zu erreichen, so sehr es sich auch bemühte.
Der Frühling verging. Während Bäume, Sträucher und Baumkinder ein dichtes Blätterdach ausbildeten, befand sich das kleine Moos immer noch am schattigen Waldboden. Der Sommer lockte Insekten in den Wald, die emsig von Blüte zu Blüte flogen. Das kleine Moos begann sich einsam zu fühlen. Warum konnte es nicht erreichen, was die anderen Pflanzen so spielend erreichten? Das kleine Moos beobachtete wunderschöne Blütenpflanzen, die von Nektar sammelnden Bienen besucht wurden. Sträucher brachten süße Beeren hervor, von denen sich die Waldtiere ernähren konnten. Die Samen der Bäume wurden von emsigen Waldvögeln und Eichhörnchen gesammelt.
“Wozu bin ich gut?”, fragte sich das kleine Moos. Und als es darauf keine Antwort fand, wurde es sehr traurig. Der Sommer ging in den Herbst über. Das kleine Moos hatte beschlossen, nicht mehr zu wachsen, denn es sah einfach keinen Sinn darin. Die Luft wurde schnell kühler und Nebelschwaden zogen durch den Wald, als die ersten Blätter von den Bäumen fielen. Doch das kleine Moos konnte sich nicht an der Farbenpracht erfreuen. Vielmehr beäugte es die Fruchtkörper der Pilze, die in großer Anzahl aus dem Boden kamen, um ihre Sporen vom Wind verteilen zu lassen. Mitten durch das kleine Moos zwängte sich ein schönes Exemplar mit roter Kappe. Und obwohl das kleine Moos wusste, dass von dieser Rotkappe keine Gefahr ausging, da sie sich doch mithilfe ihrer Baumfreunde ernährte und dem kleinen Moos nichts würde streitig machen, ärgerte es sich erneut. Warum konnte es nicht auch Blüten ausbilden oder kleine Beeren tragen? Warum konnte es nicht auch nützlich sein?
Das kleine Moos zog sich nun ganz in sich zurück und wollte am liebsten gar nichts mehr von der Welt wissen. Das Laub der Buchen und Eichen bildete inzwischen eine stattliche Schicht über dem Waldboden und schirmte das kleine Moos ab. Plötzlich konnte es kleine Bewegungen zwischen seinen Ästchen und Blättchen wahrnehmen. Die Traurigkeit und der Ärger des kleinen Mooses hatten im Laufe des Jahres alles überlagert, was direkt zu seinen Füßen passierte. In der Stille des Spätherbstes begann es nun zu lauschen und zu beobachten. Das kleine Moos war erstaunt, wie vielen Kleinstlebewesen es offenbar als Lebensraum diente. Das Interesse des kleinen Mooses war geweckt. Mit der Zeit bekam es mit, dass sich putzmuntere Tierchen wie Springschwänze, Bärtierchen und Käferchen bei ihm wohl fühlten. Schnell war ihm klar, dass die kleinen Bewohner Feuchtigkeit liebten und es begann, das Wasser, das es über das Jahr hinweg gespeichert hatte, an besonders trockenen Tagen an die Umgebung abzugeben.
Das kleine Moos freute sich über diese kleine Welt, die sich ihm so unerwartet eröffnet hatte. Die Tage vergingen. Als der Winter sich ankündigte, verschwanden die kleinen Bewohner in ihr sicheres Winterquartier. Nur die Bärtierchen, die das kleine Moos besonders lieb gewonnen hatte, ließen sich nicht von Schnee und Kälte beeindrucken. Als sich nichts mehr um es herum regte, begab sich auch das kleine Moos zur Winterruhe. Zufriedenheit legte sich über die Blättchen und Ästchen wie Schnee über eine raue Landschaft, und glättete alle Wogen. Das kleine Moos wusste übrigens zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass es in Zukunft noch so viel mehr entdecken würde. Zum Beispiel, dass sowohl Baumkinder, als auch Frühlingsblüher gerne in Moosen keimten und Pilze besonders gerne in der Nähe dichter Moospolster wuchsen. Bis dahin sollte allerdings noch viel Zeit vergehen. Vorerst schlummerte das kleine Moos im Verborgenen und träumte vom nächsten Frühling.